So fördert gewachsene Kompetenz Innovationen

Traditionsreiche Unternehmen in der Metropole Ruhr nutzen oft ihr lang erworbenes Wissen für wegweisende Entwicklungen, mit denen sie ganz neue Märkte erobern.

Mehrere Kabinen schweben im selben Aufzug. Ohne Seil. Ohne Gegenverkehr. Sobald die erste Kabine die Zieletage erreicht hat, gleitet sie zur Seite, wechselt in den benachbarten Schacht und tritt die Rückfahrt nach unten an. Was an eine U-Bahn im Linienverkehr erinnert, ist das modernste Liftsystem der Welt. Noch existiert es nur im Testbetrieb. Doch der „Multi“ von Thyssen-Krupp Elevator hat sich bereits international einen Namen gemacht. Das „Time Magazine“ kürte das mit Magnetkraft betriebene System 2017 als eine der 25 weltweit besten Innovationen. Im neuen East Side Tower in Berlin soll der „Multi“ erstmals zum Einsatz kommen. 

Anders, als man es erwarten könnte, hat den Lift kein hippes Start-up entworfen, sondern ein Traditionskonzern an der Ruhr. Thyssen-Krupp war bereits in den 70er-Jahren an der Entwicklung der Magnetschwebebahn Transrapid beteiligt. Die damals verwendete Technologie fließt nun in ein neues Produkt ein. Da sich die Kabinen des Liftsystems in einer Endlosschleife bewegen, spart der Aufzug Platz – und verkürzt die Wartezeit für Passagiere. Das ist nicht zu unterschätzen.  Weltweit absolvieren über zwölf Millionen Aufzüge sieben Milliarden Fahrten pro Tag und befördern dabei über eine Milliarde Menschen. 

Das Beispiel zeigt, wie eine gewachsene Struktur Innovationen ermöglicht, für deren Entwicklung Neueinsteiger Jahrzehnte benötigten. Dieses technologische Wissen hat der Metropole geholfen, den Strukturwandel der vergangenen Jahrzehnte wesentlich besser zu meistern als andere Regionen Europas. Aus diesem Grund hat der industrielle Kern des Ruhrgebiets noch heute eine herausragende wirtschaftliche Bedeutung. Die Industrie-Unternehmen sind in der Lage, zukunftsfähige Produkte zu entwickeln und neue Absatzmärkte zu erschließen. Dabei stützen sie sich auf eine breite Basis von Fachkräften. Im industriellen Kern der Metropole Ruhr arbeiten 323.000 Personen, was knapp 19 Prozent der Gesamtbeschäftigten ausmacht. Allein 40 der 500 umsatzstärksten deutschen Konzerne haben einen Sitz in der Region. 

Wissen von ganz unten

Hinzu kommen zahlreiche Mittelständler. Diese oft nur Branchenexperten bekannten Champions sind mit ihren Technologien weltweit unterwegs. Einer dieser Innovationsführer ist J.D. Neuhaus, ein Hersteller von pneumatischen und hydraulischen Hebezeugen und Krananlagen. Mit handbetriebenen Hebezeugen des Herstellers hat man an der Ruhr schon vor mehr als 100 Jahren Lasten aus Bergwerksschächten gezogen. Die Produkte des 270 Jahre alten Familienunternehmens aus Witten werden heute in mehr als 90 Ländern und in über 70 Branchen eingesetzt – zum Beispiel in der chemischen Industrie, auf Bohrinseln und in der Autoindustrie. 

Der globale Austausch ist eine feste Größe für die Industrieunternehmen und Dienstleister an der Ruhr. Auch die Zahl der ausländischen Unternehmen ist in den vergangenen zehn Jahren um die Hälfte gestiegen. Mittlerweile haben Hersteller aus 160 Nationen mindestens eine Niederlassung in der Region. 

Der Baukonzern Hochtief macht sogar fast sein gesamtes Geschäft im Ausland. In der Essener Zentrale bereiten Experten das Unternehmen auf künftige Projekte in der ganzen Welt vor. Denn die Baubranche steht vor einem tiefgreifenden Wandel, bei dem neue Technologien eine herausragende Rolle spielen. 

Mit dem Roboter-Auto auf die Baustelle

Im Mittelpunkt stehen auch bei Hochtief künstliche Intelligenz, Automatisierung und vernetzte Geräte. „Wir setzen uns mit Technologien und Programmiermethoden auseinander, die einen ganz anderen Konzern erzeugen werden“, sagt David Koch, der bei Hochtief das Thema Innovationen leitet. Mit einer eigenen Innovationsgesellschaft baut das Unternehmen seinen Vorsprung weiter aus. Derzeit arbeitet Hochtief zum Beispiel an einer Software, mit der sich Erdarbeiten optimieren lassen. Bislang muss dazu ein geometrisches Team rausfahren und das Terrain vermessen. Künftig soll das – mithilfe spezieller Technologien zur Datenerfassung – auch am Computer möglich sein. Koch geht davon aus, dass schon in wenigen Jahren Roboter auf Baustellen den Arbeitern zur Hand gehen. Diese Roboter müssten keineswegs wie Menschen aussehen, so wie im Science Fiction. „Ein Roboter kann jede Maschine sein, die intelligent gesteuert wird“, sagt Koch. Schon in relativ kurzer Zeit werde es teilautonome Baustellen geben – und zwar dort, wo kilometerlange Erdbewegungen stattfinden. Das ist im Straßenbau der Fall. „Dort werden in Zukunft selbstfahrende Maschinen die Arbeit erledigen.“ Solche autonomen Fahrzeuge sind bei Hochtief bereits erprobt. Der zum Konzern gehörende Minendienstleister Thiess hat in Australien vollautomatische Muldenkipper im Einsatz. 

Um innovative Ideen umzusetzen, sind geeignete Experten und Nachwuchskräfte notwendig. Das Ruhrgebiet bringt gute Voraussetzungen mit. Nach einer Studie des IW Köln ist der Fachkräftemangel hier weniger ausgeprägt als in anderen Regionen des Landes. Auch die Hochschullandschaft sei konsequent ausgebaut, heißt es beim Institut. 

Überdies schneiden die Städte und Gemeinden in Sachen Digitalisierung gut ab. Rund 85 Prozent der Haushalte haben einen Breitbandanschluss, deutschlandweit sind es nur 76 Prozent. Der schnelle Transport von Daten ist auch für Unternehmen eine wichtige Voraussetzung, um ihr Tagesgeschäft zu bewältigen und digitale Innovationen umzusetzen. 

Eines von vielen Beispielen ist der Duisburger Haniel-Konzern, der auf Zeche Zollverein digitale Produkte entwickelt. Auf dem Gelände des heutigen Industriedenkmals hat der Unternehmer Franz Haniel 1852 den weltweit ersten vertikalen Schacht in die Erde treiben lassen – damals war das sehr innovativ. Heute nutzt Haniel dieses hippe Ambiente, um digitale Geschäftsideen zu erproben und Talente an Bord zu holen. „Bei der Standortwahl haben wir uns bewusst für die Zeche Zollverein und gegen Berlin entschieden“, sagt Dirk Müller, Geschäftsführer von „Schacht One“ – wie sich das konzerneigene Start-up nennt. Das erste dort entwickelte Produkt ist ein digitaler Planer, mit dem Unternehmen alle gesetzlichen Prüfungen und Wartungen im Unternehmen verwalten und kontrollieren können. Bei der Haniel-Tochter Takkt ist pruefplaner.de bereits im Einsatz. 

Zukunftsmarkt Chemie

Eine eigene Innovationseinheit gibt es auch beim Evonik-Konzern. Seit 20 Jahren entwickelt das Unternehmen Creavis aus Marl zukunftsträchtige chemische Produkte. Das Projekt Rheticus etwa vereinigt die drei Zukunftsbereiche Biochemie, Energie und Nachhaltigkeit. Es geht darum, Kohlendioxid aus Industrieabgasen mit Hilfe von erneuerbarem Strom und Bakterien in die Spezialchemikalien Butanol oder Hexanol umzuwandeln. Beide Substanzen sind Grundlage für Kunststoffe und Nahrungsergänzungsmittel. Denkbar ist, dass sich mit Hilfe der Technologie auch Energie speichern lässt, um Schwankungen im Stromnetz zu stabilisieren. Evonik treibt das Vorhaben gemeinsam mit Siemens voran. Bis 2021 wollen die beiden Partner eine erste Versuchsanlage am Standort Marl in Betrieb nehmen. 

Ein weiteres Beispiel für die Zukunftsfähigkeit der chemischen Industrie in der Metropole Ruhr ist der Hochleistungskunststoff Polyamid 12. Mit ihm lassen sich unter anderem robuste Öl- und Gasrohre herstellen, die zugleich so biegsam sind, dass sie aufgerollt werden können, was die Verlegung vereinfacht. Auch für Leitungen in Kühlkreisläufen von E-Auto-Batterien ist Polyamid 12 geeignet oder für den 3D-Druck. Evonik ist einer der größten Hersteller des Hochleistungskunststoffes und plant bis 2021 in Marl neben der bereits bestehenden Produktion einen weiteren Anlagenkomplex für 400 Millionen Euro zu erstellen – die größte Investition des Konzerns in Deutschland. Weltweit wächst der Markt für Polyamid 12 jedes Jahr um mehr als fünf Prozent. Für den 3D-Druck liegt die Zunahme sogar im zweistelligen Bereich. Wachstumsperspektiven, die zeigen, warum in Jahren verfeinertes Wissen eines eingesessenen Industriezweigs notwendig ist, um bahnbrechende Innovationen zu ermöglichen. 

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