Wie das Ruhrgebiet das Rad neu erfindet

Mitten in Europa bietet die Metropole Ruhr alle Vorzüge eines erfolgreichen Logistikstandortes: dichte Infrastruktur, innovative Unternehmen, Spitzenforschung. Entsprechend zählen die Mobilität und die Logistik zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen der Region.

Nicht alle großen Erfindungen kommen aus Garagen. „Viel Tageslicht, Rundumblick aufs Wasser“, schwärmt Jungunternehmer Sven Spiekermann, 25, von den offen gestalteten Büros und Besprechungsräumen in der Wehrhahnmühle am Duisburger Innenhafen. Auf 550 Quadratmetern beheimatet der denkmalgeschützte Backsteinbau mittlerweile 13 Start-ups, die neue logistische Lösungen entwickeln.

Innovationsplattform Startport

Vor gut einem Jahr gründete die Duisburger Hafen AG die Ideenschmiede Startport. Mietfreie Büroflächen sowie Unterstützung von Mentor*innen aus Partnerunternehmen wie dem Stahlhändler Klöckner, dem Energiekonzern Evonik, aus dem Initiativkreis Ruhr oder der Duisburger Hafen AG gehören zu dem zwölfmonatigen Förderprogramm für ausgewählte Gründungen.

Darunter auch Heuremo. Bei einer Recherche zum Güterverkehr stellte das Gründertrio um Sven Spiekermann fest: Lieferfahrzeuge im urbanen Bereich sind oft nur zu 30 Prozent ausgelastet. „Lieferwagen fahren also mit bis zu 70 Prozent freier Ladefläche durch unsere Städte“, erklärt Spiekermann. Das will Heuremo mit einer virtuellen Plattform ändern, die vollautomatische Tourenplanungen übernimmt, über Unternehmensgrenzen hinweg. Aus drei LKW, die bisher auf ähnlichen Strecken fahren und nicht voneinander wissen, wird so ein voll beladenes Fahrzeug. Das Einsparpotenzial ist nach Berechnung von Heuremo enorm: Pro Jahr sei fast eine halbe Million Kilometer Fahrt durch eine Stadt wie Duisburg zu optimieren.

„Wir suchen innovative und außergewöhnliche Ideen für die Digitalisierung und die Zukunft der Logistik“, sagt Peter Trapp, Geschäftsführer von Startport. Die jungen Gründer wiederum erwartet im Ruhrgebiet ein Expertennetzwerk aus etablierten Unternehmen und potenziellen Kund*innen.

Starker Logistikstandort

Der Hauch von gestern und morgen – in der Metropole Ruhr ist beides zu spüren. Bereits anno 1808 machte sich der Unternehmer Mathias Stinnes die günstige geografische Lage an Rhein und Ruhr zunutze und baute eine große Binnenhandelsflotte auf. Heute sind über 3.000 Logistikunternehmen in der Region angesiedelt, darunter Branchengrößen wie Rhenus und DB Schenker. Logistische Dienstleistungen werden beispielsweise von ortsansässigen Handelsketten wie Aldi und Tengelmann nachgefragt. Historisch begründet liegt die Expertise in der Stahllogistik; vom Ruhrgebiet aus werden Auto- oder Werkzeugbranche weltweit beliefert.

Von der Nähe zu großen Versandunternehmen wie UPS und DHL in der Metropolregion profitiert zum Beispiel auch der Online-Riese Amazon mit seinem Logistikzentrum in Dortmund. Mit fünf Millionen Einwohner*innen ist die Metropole Ruhr selbst ein attraktiver Absatzmarkt und mit einem dichten Verkehrsnetz angebunden an den Rest von Deutschland und Europa. Duisburg beheimatet den weltweit größten Binnenhafen.

Jobmotor Logistik

Die Mobilität und die Logistik gehören in der Metropole Ruhr zu den wichtigsten Jobmotoren, von tüchtigen Anpacker*innen bis zu hoch qualifizierten Akademiker*innen waren in dieser Branche 2017 knapp zehn Prozent aller Beschäftigten tätig. Um 3,1 Prozent legte die Branche im Vorjahresvergleich zu, mit rund 168.000 Arbeitsplätzen lag sie damit über dem Bundesschnitt (plus 2,7 Prozent). Die Logistik stellt den Großteil der Arbeitsplätze, aber auch die angrenzenden Bereiche Mobilitätsdienstleistungen und Mobilitätsmanagement wachsen.

In Zeiten von Staus auf Autobahnen und in Innenstädten und Debatten um Klimaschutz und Dieselfahrverbote werden von Logistikunternehmen, Automobilindustrie, Fahrrad- und Motorradhersteller*innen, Softwareanbieter*innen und Verkehrsbetrieben neue Konzepte verlangt. Gefragt ist eine optimal ineinandergreifende Mobilität mit möglichst geringer CO2-Emission.

Vernetzte Mobilität

Unter dem Schlagwort „grüne Logistik“ sucht man in der Metropole Ruhr beispielsweise die optimale Verteilung auf die Verkehrsträger Straße, Schiene, Wasser und Luft zu erreichen. Die Entwicklung neuer, leichter Werkstoffe für den Fahrzeugbau steht bei den Metallunternehmen in der Region oben auf der Forschungsliste. Intensiv gearbeitet wird auch an Brennstoffzellen-, Hybrid- und Elektroantrieb für die Fortbewegung auf zwei oder vier Rädern. Diese wiederum ist untrennbar verbunden mit Kommunikationssystemen, die verschiedene Verkehrsmittel und Fahrzeuge miteinander vernetzen.

Unter dem Opel-Blitz war Bochum als Autostadt bekannt. Nach der Schließung des Werks in Laer Ende 2014 schickt sich nun eine Volkswagen-Tochter an, diesem Ruf neue Ehre zu machen. Die 2014 gegründete VW Infotainment GmbH ist auf die schnurlose Verbindung des Autos mit seiner Umwelt spezialisiert, etwa für Staumeldungen und Wartungsempfehlungen in Echtzeit.

Das vernetzte Auto gilt neben dem autonomen Fahren und der E-Mobilität als Schlüsseltechnologie für die Automobilwirtschaft. Der Unternehmensberatung McKinsey zufolge wächst der weltweite Markt für so genannte Connectivity-Komponenten und -Dienste bis zum Jahr 2020 von zuletzt 30 Milliarden Euro auf 170 Milliarden Euro. Auch VW Infotainment entwickelt sich rasant: Seit Gründung hat sich die Belegschaft bereits auf über 400 Mitarbeitende verdoppelt, Dutzende Testingenieur*innen und Softwareentwickler*innen werden gesucht. Die Entscheidung für den Standort Bochum begründet Geschäftsführer Tobias Nadjib so: „Ein großes Angebot an Fachkräften, eine gute Infrastruktur und ein gutes wissenschaftliches Umfeld.“

Logistik der Zukunft

Wie andere Branchen profitiert auch der Mobilitätssektor im Ruhrgebiet von einem regen Austausch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Im EffizienzCluster LogistikRuhr etwa entwickeln mehr als 180 Unternehmen gemeinsam mit über 600 Wissenschaftler*innen aus 20 Forschungs- und Bildungseinrichtungen die Logistik der Zukunft. Das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) in Dortmund ist die weltweit größte Forschungseinrichtung in diesem Bereich.

Innovationen werden direkt im Reallabor Ruhrgebiet erprobt: „Mit so dicht aneinander gesiedelten Städten eine echte Herausforderung“, sagt Daniela Kirsch, die am Fraunhofer-Institut zu Themen wie geräuscharmer Nachtlogistik forscht. So hat ihr Team kürzlich im Rahmen eines Forschungsprojekts die Belieferung innerstädtischer Filialen einer Handelskette zwischen 22 und 24 Uhr mit einem elektrisch angetriebenen 18-Tonner begleitet. Fazit: „Technologisch und unter Einhaltung der Richtlinien möglich“, sagt die diplomierte Logistikerin mit Abschluss an der TU Dortmund.

Weniger Stau, weniger Lärm, bessere Luft: „Mobilität und Lebensqualität sind untrennbar miteinander verbunden“, betont Georg Nesselhauf von der Initiative Mobilität-Werk-Stadt. Hier setzen sich Bürger*innen, Stadtverwaltungen und Unternehmen gemeinsam für eine nachhaltige, gemischte Mobilität in der Metropole Ruhr ein.

Mobilität statt Autobesitz

Tatsächlich verliert der Führerschein für die junge Generation an Bedeutung, zeigt eine Studie für das Bundesverkehrsministerium. Der wachsende Wunsch nach Mobilität statt Autobesitz trifft im Ruhrgebiet auf ein breites Angebot. Die Bogestra zum Beispiel, eines der größten deutschen Verkehrsunternehmen mit Hauptsitz in Bochum, beteiligt sich an der Entwicklung einer App, dank der es ab 2020 möglich sein soll, mit verschiedenen öffentlichen Verkehrsmitteln quer durch Deutschland zu reisen – mit einem einzigen Ticket.

Das Projekt „RUHRAUTOe“, initiiert vom renommierten CAR-Institut der Uni Duisburg-Essen um Professor Ferdinand Dudenhöffer, will Bewohner*innen wie Studierende der Metropolregion mit dem Ausleihen von Elektrofahrzeugen vertraut machen. „Wer daran zweifelt, so problemlos von Gelsenkirchen zur Oma ins Sauerland zu kommen, kann sich vom Gegenteil überzeugen“, sagt der Projektverantwortliche Andreas Allebrod. Auch der Fahrradverleiher metropolradruhr setzt auf Partnerschaften mit den Hochschulen und modernisiert derzeit seine Flotte, so dass Fahrradschlösser direkt per App angesteuert werden können.

„Wir brauchen das Fahrrad als vollwertigen Verkehrsträger“, sagt Martin Tönnes. Er ist Planungschef beim Regionalverband Ruhr und hat das Projekt „Radschnellweg 1“ angestoßen. Nach seiner Fertigstellung soll eine 100 Kilometer lange Trasse die Städte zwischen Duisburg und Hamm verbinden. Einer Nachfrageprognose zufolge werden dann täglich bis zu 50.000 Pendler*innen aufs Rad umsteigen. Der längste Radschnellweg der Welt weckt nationales und internationales Interesse: Tönnes hat bereits Besucher*innen-Gruppen aus Japan und Australien in Essen empfangen, die amerikanische Bloggerszene war begeistert von der „German Autobahn“ für Radfahrer*innen, am Stau vorbei.

Auch Heuremo-Gründer Sven Spiekermann will mit der Digitalisierung und Bündelung von LKW-Touren „im Ruhrgebiet ein Problem lösen und die Lösung nach Deutschland und in die Welt tragen“. Sagt er – und klingt dabei wie erfolgreiche Gründer*innen vor ihm. Aber sein Büro im Duisburger Innenhafen ist schöner als die Garage von Steve Jobs.

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