Vom Auen-Idyll zum Seuchenherd – und zurück

Kaum ein Fluss litt so sehr unter der Industrialisierung wie die Emscher. Doch die vor 30 Jahren begonnene Renaturierung ist ein großer Erfolg. Seit Ende 2021 ist die Emscher abwasserfrei. Nun entstehen an ihrem Ufer neue Auen-, Erholungs- und Wohngebiete.

Drei Flüsse prägen die Metropole Ruhr: Die Lippe im Norden, die Ruhr im Süden, in der Mitte die Emscher. Unter den Folgen von Bergbau und Industrialisierung litt die Emscher am meisten. Sie wurde mehrfach umgeleitet, vergiftet und zum offenen Abwasserkanal umgebaut, dessen Gestank die Anwohner*innen ertragen mussten.

Vor 30 Jahren begann die Renaturierung der Flusslandschaft, die zu den größten ökologischen Herausforderungen der Nach-Bergbau-Zeit gehört. Einen großen Erfolg feierte das Projekt 2021: Durch den Ausbau des Abwassersystems gelangt seit Ende des Jahres kein Abwasser mehr in den Fluss. Eine Zeitreise durch die Zerstörung einer Flusslandschaft und ihre Wiederbelebung.

1800-1900: Sterben der Emscher

Bis ins frühe 19. Jahrhundert ist die Emscherregion eine dünn besiedelte, fisch- und vogelreiche Auenlandschaft. Im Zuge der Industrialisierung steigt die Bevölkerung rapide an. In Dortmund zum Beispiel wächst sie zwischen 1800 und 1930 von weniger als 5.000 auf über 500.000. Immer mehr Abwässer gelangen in den Fluss, hinzu kommen zum Teil giftige Einleitungen aus Bergbau und Industrie.

Ende des 19. Jahrhunderts ist der Fluss tot. Anwohner*innen klagen über die stinkende Brühe. Krankheiten wie Cholera, Typhus und Ruhr breiten sich immer wieder aus.

1899: Gründung der Emschergenossenschaft

Im Jahr 1899 wird die Emschergenossenschaft von Anrainerstädten und -gemeinden, Bergbau und Industrie als erster deutscher Wasserwirtschaftsverband gegründet. Sie soll die hygienischen Zustände verbessern, die Region vor Hochwasser schützen und die Interessen von Bergbau und Wirtschaft berücksichtigen.

Da die Kohleförderung immer wieder zu Bergsenkungen führt, entscheidet man sich gegen den Bau einer unterirdischen Kanalisation. Ein Rohrsystem wäre durch das Absinken des Bodens immer wieder zerstört worden.

Am Oberlauf der Emscher bis Dortmund Deusen und an den bereits renaturierten Zuflüssen können sie heute schon beobachten, wie verschwundene Tier- und Pflanzenarten zurückkehren.
Uli Paetzel, Vorstandsvorsitzender Emschergenossenschaft

1906: Beginn der Kanalisierung

Ab 1906 wird die Emscher begradigt und über Jahrzehnte als oberirdischer Abwasserkanal genutzt. Zudem errichtet die Emschergenossenschaft Pumpwerke, die die Abwässer zu den Kläranlagen leiteten. Das ist eine praktikable und bezahlbare Lösung. Die Emscher und ihre Nebenflüsse verschwinden jedoch in unansehnlichen Betonrinnen, „Köttelbecke“ genannt.

1926: Gründung des Lippeverbandes

Auch an der Lippe und ihren Nebenflüssen hinterlassen Bergbau, Industrie und Bevölkerungszuwachs deutliche Spuren. 1926 wird nach dem Vorbild der Emschergenossenschaft der Lippeverband gegründet, seit damals arbeiten beide Verbände eng zusammen.

1949: Umbettung der Emscher

Die Mündung der Emscher wird zum zweiten Mal verlegt. Aufgrund von Bergbau-bedingten Absenkungen war der Fluss bereits im Jahr 1910 von Duisburg-Alsum einige Kilometer nördlich in den Stadtteil Walsum verlegt worden. 1949 erfolgte eine weitere Umbettung, seitdem fließt die Emscher bei Dinslaken in den Rhein, rund 15 Kilometer nördlich ihrer ursprünglichen Mündung.

1980er-Jahre: Pilotprojekte für die Renaturierung

Mit dem absehbaren Ende des Bergbaus kommt die Frage eines Umbaus der Flusssysteme auf. Zu den ersten Pilotprojekten gehören die Renaturierung des Dellwiger Bachs in Dortmund (1982) und von Läppkes Mühlenbach (1989) zwischen Essen und Oberhausen.

Die früher kanalisierten Bäche werden renaturiert, in den neu entstandenen Feuchtbiotopen und Auwiesen siedeln sich zuvor verdrängte Tierarten an. Zur Entsorgung der Abwässer werden unterirdische Kanäle gebaut.

1991: Beschluss zum Emscher-Umbau

Die Idee der Renaturierung der Emscher gewinnt an Popularität. Zur Bundesgartenschau in Dortmund wird 1991 ein kurzer Abschnitt der Emscher entlang des Westfalenparks in einen naturnahen Zustand zurückversetzt. Im gleichen Jahr wird beschlossen, das gesamte Emschersystem umzubauen. In 30 Jahren wurden seitdem mehr als fünf Milliarden Euro in das Generationenprojekt investiert. Unter anderem wurden vier moderne Großkläranlagen in Dortmund, Bottrop, Duisburg und Dinslaken gebaut.

2009: Baubeginn Abwasserkanal Emscher

2009 erfolgt der erste Spatenstich für den Abwasserkanal Emscher (AKE), der unterirdisch parallel zum Fluss verläuft. Der zentrale Baustein der Umgestaltung des Flusssystems verläuft 51 Kilometer weit von Dortmund bis zur Kläranlage Emscher-Mündung und hält die Siedlungs- und Industrie-Abwässer vom Fluss fern.

2014: Baubeginn für neue Emscher-Mündung

An der Emscher-Mündung in den Rhein soll eine Auenlandschaft entstehen. Dafür wird der Flusslauf ein weiteres Mal nach Norden verschoben, diesmal um 700 Meter. Statt wie bisher über einen Wasserfall läuft das Wasser künftig über eine Sohlgleite in den Rhein. Dadurch können Fische von einem Fluss in den anderen gelangen.

2021: Fertigstellung Pumpwerk Oberhausen

Ein entscheidender Beitrag zur Säuberung der Emscher von Abwässern ist die Inbetriebnahme des Pumpwerks Oberhausen 2021. Deutschlands größtes Schmutzwasserpumpwerk kann bis zu 16.500 Liter Abwasser pro Sekunde hochpumpen – aus einer Tiefe von rund 40 Metern.

Wo steht das Projekt heute?

"Wir haben jetzt die Abwasserfreiheit der Emscher erreicht. Das ist ein Ereignis, auf das die Emschergenossenschaft 30 Jahre hingearbeitet hat und auf das sich die Menschen im Ruhrgebiet schon lange freuen", sagt Prof. Dr. Uli Paetzel, Vorstandsvorsitzender der Emschergenossenschaft. Alle Beteiligten könnten stolz sein, dass aus der stinkenden "Köttelbecke" wieder ein sauberer Fluss geworden ist. Doch noch sei die Arbeit nicht abgeschlossen.

"Die Emscher wird noch einige Jahre brauchen, bis sie wieder zum Lebensraum für Fische und Vögel wird. Doch am Oberlauf der Emscher bis Dortmund Deusen und an den bereits renaturierten Zuflüssen können sie heute schon beobachten, wie verschwundene Tier- und Pflanzenarten zurückkehren." Die Eröffnung der neuen Emscher-Mündung in den Rhein, ein weiterer Meilenstein des Emscher-Umbaus, wird im September 2022 gefeiert.

Wie sieht es an der Emscher in 20 Jahren aus?

Entlang der Emscher werden in den nächsten Jahren weitere Auenflächen angelegt, die dem Hochwasserschutz dienen, zugleich aber auch Wildtieren und Pflanzen Lebensraum bieten. 2024 stellt die Emschergenossenschaft zum Beispiel in Oberhausen die Auenlandschaft Holtener Bruch fertig, kündigt Paetzel an. „In den nächsten 20 Jahren werden an der Emscher viele neue Lebensräume für Tiere und Pflanzen entstehen, aber auch Erholungsflächen für die Menschen. Außerdem werden bis dahin nachhaltige Wohnquartiere an der Emscher gebaut, die den Menschen hohe Lebensqualität bieten.

Overlay schliessen