Pioniere für das Gesundheitssystem

Die medizinische Versorgung in Deutschland ist überlastet. Mit dem neuen Masterstudiengang „Community Health Nursing“ möchte die Universität Witten/Herdecke Abhilfe schaffen – und nimmt bundesweit dabei eine Vorreiterrolle ein, ein neues Berufsbild zu etablieren. Die Absolvent*innen sollen künftig an der Schnittstelle zwischen Pflege und Medizin arbeiten. Erfahrungen aus dem Ausland zeigen: Das Potenzial ist groß.

Es reichen fünf Minuten mit Katja Daugardt, um zu verstehen, warum es mit der medizinischen Versorgung in Deutschland so nicht weitergehen kann. „Die Herausforderungen sind gewaltig“, sagt die wissenschaftliche Mitarbeiterin im Department für Pflegewissenschaft der privaten Universität Witten/Herdecke, während die Zuhörer auf eine Folie mit acht umrandeten Begriffsfeldern blicken. Die Informationsveranstaltung zum neu entwickelten Masterstudiengang „Community Health Nursing“ muss Corona-bedingt virtuell stattfinden, an der Dringlichkeit der Problemlage ändert das freilich nichts – im Gegenteil.

Denn auch wenn die Menschen in Deutschland erfreulicherweise immer älter werden, bedeutet das im Umkehrschluss: Sie müssen länger medizinisch versorgt und gepflegt werden. Viele leiden zudem an verschiedenen Krankheiten gleichzeitig; die Zahl der chronischen Krankheiten wie Diabetes Mellitus und Bluthochdruck steigt. Es brauche deswegen eine ausreichende Zahl an Hausärzt*innen und Pflegekräften, um alle Menschen weiterhin gut behandeln zu können, erklärt Daugardt. Genau daran aber fehlt es und diese Situation wird sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen.

In Finnland wurde in einer Studie festgestellt, dass von 50 Patienten nur 20 von Ärzten weiterbehandelt wurden. Die restlichen 30 wurden allein durch Community Health Nurses versorgt.
Katja Daugardt, Universität Witten/Herdecke

Hier setzt das neue Masterstudium in Witten/Herdecke an. Die Absolvent*innen sollen künftig als erste Kontaktpersonen für Patient*innen dienen. Geplant ist, dass sie für Vorsorgeuntersuchungen sensibilisieren, aber auch selbst einfache Untersuchungen wie Blutentnahmen oder Impfungen vornehmen und die weitere medizinische Versorgung koordinieren. Das soll Ärzt*innen und Pflegekräfte entlasten und die Gesundheitsversorgung verbessern.

Im Ausland habe man mit diesem Konzept sehr gute Erfahrungen gemacht, berichtet Daugardt. In Skandinavien und Kanada seien Pflegekräfte mit akademischem Abschluss bereits seit vielen Jahren fest etabliert. „In Finnland beispielsweise wurde in einer Studie festgestellt, dass von 50 Patienten nur 20 von Ärzten weiterbehandelt wurden. Die restlichen 30 wurden allein durch Community Health Nurses versorgt.“ Eine Schlüsselfunktion spielen dabei medizinische Versorgungszentren, die verschiedene Fachrichtungen unter einem Dach vereinen. Dort arbeiten die speziell ausgebildeten Pflegefachpersonen eng mit Ärzt*innen, Sozialarbeiter*innen oder Psycholog*innen zusammen.

Universität Witten/Herdecke nimmt Vorreiterrolle ein

Soweit ist man in Deutschland noch nicht. Witten/Herdecke bereitet aber als eine von bundesweit gerade einmal drei Hochschulen, die den Studiengang ab Herbst 2020 erstmalig anbieten, den Weg dahin. Vorausgegangen war ein Bewerbungsverfahren der Agnes-Karll-Gesellschaft im Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe und der Robert Bosch Stiftung, die das Projekt begleiten und finanziell fördern. Mit ihrer großen pflegewissenschaftlichen Expertise und einer engen Verzahnung mit der Humanmedizin hatte Deutschlands erste private Universität überzeugt.

Voraussetzung für Studieninteressierte sind neben einem abgeschlossenen Bachelorstudium und einer Pflegeausbildung ein hohes Maß an Eigeninitiative: „Wir suchen mutige Pioniere, die auch mal ihren Bürgermeister davon überzeugen können, neue Dinge in der Kommune anzustoßen“, sagt Daugardts Kollege Helmut Budroni, der den Studiengang mitentwickelt hat.

Studierende können individuelle Schwerpunkte setzen

Denn bewerbungsreife Stellen gibt es für „Community Health Nurses“ in Deutschland selbstverständlich noch nicht. Entsprechend vielfältig sind die Einsatzmöglichkeiten. So können sich die Absolvent*innen auf die Versorgung innerhalb einer Region konzentrieren, aber auch auf bestimmte Erkrankungen oder Personengruppen wie junge Familien oder Senior*innen. Als Arbeitsorte kämen neben medizinischen Versorgungszentren Hausarztpraxen oder Behörden in Betracht. Auch Schulen seien denkbar, sagt Daugardt. Dort könnten die Pflegekräfte wichtige Aufklärungsarbeit leisten zu Themen wie Mobbing, sexuelle Gesundheit oder Ernährung. Und auch wenn der Studiengang bereits vor Beginn der Covid-19-Krise konzipiert wurde, ist der Einsatz während Pandemien fester Bestandteil des Lehrplans. „Erfahrungen während der SARS-Pandemie haben gezeigt, dass Community Health Nurses die Versorgungslage in medizinischen Ausnahmesituationen nachhaltig verbessern.“

Nach der inhaltlichen Konzeption möchten sich die Verantwortlichen nun verstärkt dafür einsetzen, bei Politik und ärztlichen Interessenvertretungen für das neue Angebot zu werben und eventuellen Statushierarchien entgegenzuwirken. „Unser Ziel ist, dass sich die Absolventen mit den Ärzten auf Augenhöhe begegnen“, erklärt Budroni. Manche Studienmodule in Witten/Herdecke werden deswegen gemeinsam mit den Medizinstudent*innen absolviert. Doch auch wenn sich das neue Konzept in der medizinischen Versorgungslandschaft erst noch durchsetzen muss, sind Daugardt und Budroni „sehr optimistisch“, was die Zukunft der Studierenden betrifft. „Der Bedarf ist einfach zu groß.“

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