Gefräßige Bakterien für saubere Industrie

Um die Energiewende zu meistern, sind Technologien gefragt, mit denen CO2-Emissionen reduziert werden können. Unternehmen aus der Metropole Ruhr engagieren sich mit innovativen Projekten. Der Evonik-Konzern etwa forscht mit Siemens an einer künstlichen Photosynthese, bei der Mikroorganismen zum Einsatz kommen, die aus CO2 nützliche Chemikalien produzieren.

Als traditionelle Energie- und Industrieregion trägt das Ruhrgebiet besondere Verantwortung im Kampf gegen die Klimakrise. Ruhr-Unternehmen sind engagiert dabei, wenn es darum geht, innovative Technologien zu entwickeln, die eine Minderung der Kohlendioxid-Emissionen ermöglichen. Ein Beispiel dafür ist Rheticus, ein Kooperationsprojekt des Essener Spezialchemie-Unternehmens Evonik mit Siemens Energy. In Marl, im Norden des Ruhrgebiets, haben die beiden Partner kürzlich die Pilotanlage des Projekts in Betrieb genommen, die Kohlendioxid und Wasserstoff als Rohstoffe für nachhaltige Chemikalien nutzt. Die innovative Technologie der künstlichen Photosynthese, die vom Bundesforschungsministerium gefördert wird, könnte einen wichtigen Beitrag zum Gelingen der Energiewende leisten.

Die Natur als Vorbild für innovative Technik
Für die Idee der künstlichen Photosynthese, die hinter der Rheticus-Versuchsanlage steht, haben die Entwickler*innen sich die Natur zum Vorbild genommen. Pflanzen nutzen Sonnenenergie, um über mehrere Schritte aus Kohlendioxid (CO2) und Wasser zum Beispiel Zucker herzustellen. Bei der künstlichen Photosynthese werden erneuerbare Energien wie Wind- oder Solarstrom genutzt, um über Elektrolyse und biochemische Prozesse wertvolle Chemikalien aus CO2 und Wasser zu erzeugen. Die hierbei gewonnenen Chemikalien können zum Beispiel für die Herstellung von Kunststoffen oder Nahrungsergänzungsmitteln verwendet werden. Die künstliche Photosynthese kann so dazu beitragen, den Kohlenstoffkreislauf zu schließen und die Kohlendioxidbelastung der Atmosphäre zu reduzieren. Denn die bisherigen Produktionsverfahren für Spezialchemikalien sind CO2 intensiv.

Die Rheticus-Anlage kombiniert Elektrolyse und Fermentation. Foto oben: Forschungsministerin Anja Karliczek in Marl. Fotos: Evonik AG

So funktioniert die künstliche Photosynthese
Die Versuchsanlage ist in Marl, am größten Standort von Evonik, in Betrieb gegangen. Sie besteht aus einem Ko-Elektrolyseur, entwickelt von Siemens Energy, einem Wasserelektrolyseur und dem Bioreaktor mit dem Knowhow von Evonik. In den Elektrolyseuren werden in einem ersten Schritt Kohlendioxid und Wasser mit Strom in Kohlenmonoxid und Wasserstoff umgewandelt. Die Mischung der beiden Produkte nennen Wissenschaftler*innen Synthesegas. Mit der Fermentation nutzt das Rheticus-Team ein zweites Verfahren. Dabei wird das gewonnene Synthesegas an Bakterien verfüttert. Die Mikroorganismen der Gattung „Clostridium“ ernähren sich von Kohlenmonoxid-haltigen Gasen. Was sie anschließend ausscheiden, sind Spezialchemikalien wie Butanol und Hexanol, die sonst aufwendig und stufenweise hergestellt werden müssten.

Versuchsanlage als Blaupause für zukünftige Massenproduktion
Das rund 20-köpfige Forschungsteam der beiden Unternehmen nutzt die Versuchsanlage, um die Zusammensetzung des Synthesegases und das Zusammenspiel von Elektrolyse und Fermentation weiter zu optimieren. Zusätzlich entsteht eine Einheit zur Aufbereitung der Flüssigkeit aus dem Bioreaktor, um die reinen Chemikalien zu erhalten. Im nächsten Schritt könnte eine Anlage mit einer Produktionskapazität von bis zu 20.000 Tonnen pro Jahr entstehen. Denkbar ist auch die Herstellung von anderen Spezialchemikalien oder Treibstoffen. Das Forschungsprojekt Rheticus ist eine Ausgründung aus den Kopernikus-Projekten, einer der größten Forschungsinitiativen der Bundesregierung zur Energiewende. Nach erfolgreichem Abschluss der aktuellen Rheticus-Projektphase werden Evonik und Siemens Energy eine Plattformtechnologie zur Verfügung haben, die für viele potenzielle Kunden aus Chemie und Industrie interessant sein könnte.

Mitarbeiter an der Versuchsanlage am Evonik-Standort Marl. Foto: Evonik AG

Projekt ist Teil der Forschungsinitiative für die Energiewende
Harald Schwager, stellvertretender Vorsitzender des Vorstandes von Evonik und zuständig für das Thema Innovation, betonte die Bedeutung der Chemieindustrie für Klimaschutz. „Unsere Branche liefert und entwickelt die Lösungen für die Energiewende. Forschungsprojekte wie Rheticus sind Motivations- und Innovationsmotor für eine nachhaltige Gesellschaft.“ Gerade das Ruhrgebiet – mit seinen großen Erfahrungen mit Energie, Chemie und Industrie – hat das Potenzial, einen wichtigen Beitrag für die Energiewende zu leisten, insbesondere im Bereich Wasserstoff. Auch andere Unternehmen aus der Region investieren in H2-Technologien. So will beispielsweise thyssenkrupp steel bis 2050 „grünen“ Stahl produzieren, RWE arbeitet mit mehreren Partnern an dem Wasserstoff-Infrastrukturprojekt Get H2 Nukleus.

Weltweite Nachfrage nach Klimaschutz-Technologien
„Wir wollen wirksamen Klimaschutz voranbringen und auch künftig einen starken Industriestandort Deutschland haben“, sagte Bundesforschungsministerin Anja Karliczek anlässlich der Inbetriebnahme in Marl am 21. September 2020. Sie sei zuversichtlich, dass beides gelingen könne. „Mit Rheticus zeigen wir, wie wir Produktionsprozesse in der Chemie klimafreundlich aufstellen und gleichzeitig neue innovative Produkte herstellen können. Und dies funktioniert nicht nur bei uns in Deutschland, sondern potenziell auf der ganzen Welt. Dies eröffnet uns vielversprechende Möglichkeiten für Technologieexporte.“ Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert Rheticus mit insgesamt 6,3 Millionen Euro, die beiden Industriepartner investieren gemeinsam etwa die gleiche Summe in das Projekt.

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