Wie sich in Essen das Krankenhaus der Zukunft entwickelt

Das Krankenhaus der Zukunft ist smart. Die Universitätsmedizin Essen (UME) versteht sich als Labor für das Smart Hospital. Wie die Zukunft in Krankenhäusern aussehen kann, erklärt die Digital Change Managerin Anke Diehl.

Dr. Anke Diehl ist promovierte Humanmedizinerin und hat zusätzlich einen Master in Management von Gesundheits- und Sozialeinrichtungen. 1998 begann sie in der Neuroradiologie am Uniklinikum Essen zu arbeiten und leitete zwischen 2004 und 2010 ein internationales Studienzentrum an der Klinik. Nach Stationen beim Strategiezentrum Gesundheit NRW und dem Landeszentrum Gesundheit NRW trat sie im März 2018 ihre Stelle als Digital Change Managerin der UME an und managt in dieser Funktion den Transformationsprozess zum Smart Hospital, der 2015 unter Leitung des Ärztlichen Direktors Prof. Jochen A. Werner begonnen wurde.

Frau Dr. Diehl, was erwartet mich als Patient*in in einem Smart Hospital?

In erster Linie erwartet Sie eine empathische Medizin und die bestmögliche Versorgung, die wir bieten können. Die digitalen Prozesse, die bei uns im Smart Hospital im Hintergrund laufen, sollten Sie als Patient*in vordergründig gar nicht so sehr mitbekommen. In anderen Krankenhäusern bekommt man vielleicht noch eine Papierakte in die Hand gedrückt, wenn sie beispielsweise zum CT geschickt werden. Das ist bei uns durch die elektronische Patientenakte zum Glück nicht mehr der Fall. Ein anderes Beispiel ist der Notfallbereich: Die Feuerwehr kann die digitalen Informationen einer*eines Notfallpatient*in vom Rettungswagen aus an die Notaufnahme übermitteln. Das bekommt die Person auch nicht aktiv mit, es schafft aber einen großen Vorteil, denn es ist effizienter und entlastet das Personal in der Klink. Dadurch kann es sich letztlich besser um die Patient*innen kümmern.

Wir sind allerdings in einem Prozess und noch auf dem Weg zum Smart Hospital. Vieles hängt von der Telematik-Infrastruktur ab, die nicht nur uns als Klinik und die Patient*innen vernetzt, sondern auch das ganze Drumherum im Gesundheitswesen: Apotheken, niedergelassene Ärzt*innen, die therapeutischen Berufe und Krankenkassen. In dem Ausmaß, in dem sich die gesamte Struktur entwickelt, wird auch die digitale Patientenversorgung stetig verbessert – etwa durch das E-Rezept oder die E-AU, die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.

Welche Rolle spielen auf diesem Weg zum Smart Hospital neben der Infrastruktur neue Technologien wie etwa Virtual Reality oder Künstliche Intelligenz?

Insgesamt spielen Technologien in unserer ganzen Kultur eine zunehmende Rolle. Sie verändern, wie wir privat leben, wie wir uns vernetzen, was wir in unserer Freizeit tun – im Grunde verändern sie alles. VR und KI spielen auch bei uns im Krankenhaus zunehmend eine Rolle. Virtual Reality ist relativ neu dazugekommen. Wir verwenden das jetzt schon in mehreren Bereichen – etwa für Kinder, die sich spielerisch an Untersuchungen gewöhnen und Ängste abbauen können.

Künstliche Intelligenz ist natürlich ein Riesenthema. Wir haben dieses Jahr ein neues Institut für KI in der Medizin gegründet. Das startet mit vier Professuren, im kommenden Jahr 2021 werden noch mehr dazu kommen.

Häufig wird die KI eingesetzt, um Vorhersagen zu bestimmten Krankheitsbildern zu treffen. Ohne dass man etwas operieren oder eine bestimmte einschneidende Untersuchung durchführen muss, kann man anhand der Algorithmen und der vorliegenden Daten relativ zielgenau vorhersagen, wie die Prognose mit einer bestimmten Therapie ist. Man kann dadurch zum Beispiel einschätzen, was geschieht, wenn man eine bestimmte Menge an Gewebe aus der Leber entfernt oder chemotherapeutisch abtötet. Das können wir aber nur deshalb machen, weil wir früh begonnen haben, verschiedene Daten zu sammeln und miteinander auszuwerten. Natürlich achten wir dabei auf den Datenschutz. Gesundheitsdaten sind ein sensibles Gut und ihr Schutz muss immer gewährleistet sein.

Könnte die KI soweit führen, dass man auf Basis der Gesundheitsdaten einer Person schon erkennen kann, welche Krankheiten sich potenziell bei ihr entwickeln können, bevor sie überhaupt entstehen?

Das ist noch etwas Zukunftsmusik. Wir haben in Deutschland zwar ein sehr gutes Gesundheitsversorgungssystem, aber es ist in verschiedene Sektoren unterteilt. Jeder Sektor und auch jede Einrichtung, jedes Krankenhaus und jede Praxis, hat ein eigenes Datensilo. Die KI aber braucht strukturierte, verknüpfbare Daten, manchmal über einen längeren Zeitraum, um solche Muster zu erkennen.

Nehmen wir das Beispiel Zucker. Jeder von uns weiß: Der Zuckerspiegel schwankt im Laufe des Tages sehr stark. Man muss also immer zu einer bestimmten Uhrzeit oder nach einer Mahlzeit Blut abnehmen, um die Zuckerwerte vergleichen zu können. Wenn jemand sagt, mein Zuckerwert war 150, dann sagt das erstmal gar nichts aus. Man muss zusätzlich wissen: Hat die Person eine Weile nichts gegessen oder hat sie gerade eben eine Pizza gehabt? Wurde das Blut bei nüchternem Magen abgenommen oder nicht? Und wo wurde es abgenommen: War das im Finger oder im Ohrläppchen? Genauso ist es mit digitalen Daten auch. Sie müssen in einem Standardformat abgelegt sein, damit man genau weiß, dass die Werte aus unserem Krankenhaus mit Werten vergleichbar sind, die in einer Praxis oder in einem anderen Medizinischen Versorgungszentrum gemessen wurden. Es gibt dazu internationale Nomenklaturen, die wir hier in Essen anwenden, die aber vielfach anderswo in Deutschland noch nicht angewandt werden. Es ist sicher auch ein Ziel, dieses Wissen mehr in die Fläche zu bringen. Aber ich bin mir sicher, das wird in den nächsten Jahren geschehen.

Was unterscheidet sie als UME von anderen Smart Hospitals und inwiefern sind Sie ein Vorreiter?

Das Konzept Smart Hospital dreht sich nicht in erster Linie um Digitalisierung und technische Infrastruktur. Was wir in ganz wesentlicher Hinsicht ändern müssen, sind die Organisationskultur und die Führungskultur - hin zu einer Innovationskultur. Dazu gehört, dass man transparent miteinander arbeitet, dass man berufsgruppenübergreifende, hierarchieferne Teams bildet. Innovation ist ja nichts, was im stillen Kämmerlein passiert. Man muss konstruktiv und auch diskussionsfreudig zusammenarbeiten und die Meinung der verschiedenen Berufsgruppen aktiv einfordern. Das ist etwas, dass in der Medizin durch die starke hierarchische Prägung nicht üblich ist, muss man ganz ehrlich sagen. Das Wichtige und Besondere bei uns in Essen ist, glaube ich, dass wir uns wagen, solche Wege zu gehen.

Dr. Anke Diehl, Digital Change Managerin der Universitätsmedizin Essen

Wie genau sieht Ihre Rolle als Digital Change Managerin dabei aus?

Unsere Klink besteht aus 32 Kliniken und 24 Instituten. Normalerweise arbeitet jede Klinik für sich selbst – so wie ein eigenes Schiff mit einem eigenen Kapitän, einer eigenen Mannschaft, eigenen Passagieren und einem eigenen hochspezialisierten Betriebssystem. Ich verwende dieses Bild ganz gern, weil es das Management des Transformationsprozesses ganz gut erklärt.

Wir haben also eine ganze Flotte. Der Vorstand fährt dabei praktisch in einem kleinen Boot voran und gibt den Kurs vor. Und ich springe von Schiff zu Schiff und spreche mit allen dort – mit den Passagieren, den Kapitänen, den Mitarbeitenden im Maschinenraum. Mit diesen Einblicken kann ich den Vorstand beraten und alle miteinander vernetzen. Vor allem die Zusammenarbeit mit der IT und dem medizinischen Sachverstand ist dabei ganz wichtig. Das leben wir wirklich in sehr guter Weise vor: Wir haben einen technischen Direktor der zentralen IT und wir haben einen medizinischen Direktor der zentralen IT. Das heißt, dass sich der Smart-Hospital-Ansatz nicht nur auf eine Person als Brücke zwischen der Medizin und IT begrenzt. Wir versuchen in allen Bereichen Hand in Hand zu arbeiten, damit wir voneinander profitieren.

Aber ich schaue nicht nur auf die Flotte, ich schaue auch nach außen: Wo sind die Inseln, an denen wir neue Versorgungsmittel aufnehmen können? Und wichtig ist auch, was die Politik entscheidet – also welche Strömungen uns als Flotte voranbringen oder welche Untiefen wir lieber umfahren? Dass wir als Konzern gemeinsam fahren, das zeichnet uns aus.

Inwiefern hat sich dieser Ansatz im Rahmen der Corona-Pandemie bewährt?

Es hilft uns schon. Die zentrale Notaufnahme ist beispielsweise komplett papierlos und arbeitet ausschließlich elektrisch. Dort ist auch der separate infektiologische Zugang für Patient*innen mit Verdacht auf Covid-19 angegliedert. Die Informationen über sie sind dadurch hinterher abrufbar, das ist schon super. Ein weiterer Pluspunkt ist das digitale Patientenportal. Wer mit einer Covid-19-Erkrankung zu uns kommt, der kann sich die Anwendung herunterladen und bleibt dadurch auch hinterher an uns angebunden – sie können Fragebögen zu ihren möglichen infektiologischen Symptomen oder dem allgemeinen Empfinden zu Hause eingeben.

Auch die Psyche ist dabei berücksichtigt, denn wenn es in die Quarantäne geht, dann spielen ja auch Sorgen und Nöte eine Rolle. Dazu gibt es einen Fragebogen oder auch Informationsangebote zum Beispiel zum Umgang mit Stress oder zur Achtsamkeit. Sie können einen Chat nutzen, um mit uns zu sprechen. Wir sind auch sehr gut in Essen vernetzt, wir haben ebenso Angebote der Gesundheitsämter darin wie auch vom Landschaftsverband Rheinland, der hier die Psychiatrie und eine große Klinik für Psychosomatik hat, deren Angebote ebenfalls in die App aufgenommen wurden.

Gleichzeitig können Patient*innen ein medizinisches Tagebuch mit Fieberverlauf in der App führen. Wenn sie also wieder zu uns kommen sollten, können wir all diese Informationen in die elektronische Patientenakte überspielen und haben dann einen Überblick über den gesamten Verlauf. Dazu gibt es in der App Verlinkungen zum Robert-Koch-Institut, zur Weltgesundheitsorganisation und zum Medieninformationsangebot der Stadtbibliothek in Essen: Dort können sie Zeitschriften lesen oder Hörbücher runterladen. Denn wer nicht so schwer erkrankt ist, für den spielt in der Quarantäne auch Entertainment eine Rolle.

Dieses Angebot würden wir gern in den nächsten Monaten und Jahren auch an andere Krankheitsbilder ausweiten. Es hat uns natürlich geholfen, dass wir an diesem Portal schon seit über einem Jahr herumkonfigurieren. So konnten wir jetzt sagen, wir bieten das sofort für die Corona-Patient*innen an. Die Firmen und Start-ups, die daran beteiligt waren, haben das sofort umgesetzt, weil auch sie schnell helfen wollten.

Stichwort Start-ups: Inwiefern profitieren Sie von einer Vernetzung innerhalb des Ruhrgebiets?

Das Ruhrgebiet ist mit über fünf Millionen Einwohnern ja wirklich der dichteste Ballungsraum in ganz Europa. Wir sind die größte Universitätsklinik hier in der Region und haben dadurch eine Vorreiterrolle. Wir sind hier extrem gut vernetzt über verschiedene Institutionen wie den Regionalverband Ruhr, den RuhrSummit, die Gründerwerkstatt oder die neue Initiative Digitale Medizin Ruhr. Wir arbeiten sehr offen miteinander zusammen.

Was die Start-ups betrifft, können wir uns an der UME vorstellen, dass die Beziehungen noch intensiver werden. Der Plan zum Jahreswechsel letztes Jahr war eigentlich, dass wir Start-ups ermöglichen wollten, unser Krankenhaus verstehen zu lernen, indem sie uns über die Schulter schauen können, soweit das im Rahmen vom Datenschutz möglich ist. Diese engere Zusammenarbeit ist schon wichtig, um für das besondere Umfeld im Krankenhaus ein Gefühl zu entwickeln. Die empathische Beziehung ist der Kern des Ganzen. Jemand, der beispielsweise OP-Technik entwickelt, sollte auch mal ein paar Tage im OP gestanden haben. Das wollten wir ermöglichen, konnten es aber leider erst einmal nicht weiter vertiefen, weil die Pandemie uns dazwischenkam und wir natürlich andere Aufgaben priorisieren mussten.

Wie bewerten Sie die Digital-Health-Szene im Ruhrgebiet?

Wir haben extrem gute Unternehmen hier vor Ort und sind als Uniklinikum auch Teil verschiedener Verbände, wie etwa der Digital Campus Zollverein. Die Vernetzung dabei ist sehr wichtig. Denn die Stärken von anderen zu kennen, kann dazu führen, dass man zusammen an einem Projekt arbeitet. Es ist schon ein Vorteil des Ballungsraums, dass die Wege sehr kurz sind. Und auch aus unserer Krankenhaus-Sicht ist es wichtig, dass wir so viele Krankenhäuser und auch so viele niedergelassene Ärzt*innen hier vor Ort haben. Ich glaube, das müssen wir in Zukunft noch viel mehr nutzen – dass eben die Krankenhäuser sich nicht nur als Wirtschaftsunternehmen sehen, sondern auch sagen: Wir machen eine übergreifende Kooperation, arbeiten übergreifend zusammen. Das haben wir auch mit der Initiative Digitale Medizin Ruhr hier schon sehr gut auf den Weg gebracht.

Auch wenn wir hier die größte Klinik sind, gibt es natürlich viele Kliniken, mit denen wir zusammenarbeiten können und da hilft natürlich auch das Netzwerken und da erlebe ich das schon so, dass – im Gegensatz zu früher – die Leute offener sind und bereit sind, auch die Partikularinteressen zurückzustecken. Sie haben erkannt, dass man auch Entwicklungspartnerschaften auf einer größeren Skala eingehen muss, damit alle davon profitieren können.

Die Universitätsmedizin Essen

An der UME werden jährlich 75.000 Patient*innen stationär versorgt, hinzu kommen 300.000 ambulante Behandlungen. Über 8.500 Mitarbeiter*innen der unterschiedlichsten Disziplinen arbeiten in 32 Kliniken und 24 Instituten.

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