Wie das Dehnen der Bauchdecke Leben rettet

Das Unternehmen fasciotens aus Essen stellt die ersten Medizinprodukte her, die es ermöglichen, komplexe Bauchdeckendefekte standardisiert zu verschließen – mit verringerten Risiken für Patient*innen und einer kürzeren Behandlungsdauer.

Es ist 2013, als der Gefäßchirurg Dr. Lill zum Erfinder wird. Lill behandelt häufig Patient*innen mit offenem Abdomen. Es gibt verschiedene medizinische Gründe, die Bauchdecke zu öffnen. Oft liegt es an geschwollenen Organen, die dafür sorgen, dass der Druck im Bauchraum zu hoch ist. Eine offene Bauchdecke kann dann Leben retten, weil die Patient*innen auf diese Weise Zeit gewinnen – doch die darf nicht zu lang dauern. "Das Problem ist, dass sich dann die Bauchdecke zur Seite hinweg zurückbildet", sagt Lill. "Dadurch kann man die Bäuche nicht mehr verschließen." Die Folge sind hohe Komplikationsraten: Je länger die Bauchdecke offen ist, desto häufiger können Fisteln (Löcher im Darm, welche Darminhalt in die Bauchhöhle freisetzen) entstehen, was zu Infektionen führt. Häufige Folgen: vielfaches Organversagen, Patient*innen sterben.

Aus einem Problem entsteht ein Produkt

Lange suchen Fachärzt*innen nach einer standardisierten Lösung, ein Produkt dazu gibt es jedoch nicht. Bis dahin behelfen sich die Mediziner*innen selbst mit kreativen Eigenentwicklungen, die aber lediglich provisorisch sind. Für die Patient*innen bedeutet das trotz aller Bemühungen oft monatelange Aufenthalte auf der Intensivstation mit offener Bauchdecke und dem Risiko, Komplikationen zu erleiden.

Lill befindet sich gerade auf einem Fachkongress, auf dem das Problem diskutiert wird, als er von Stefan Behle angerufen wird. Behle hatte als Krankenpfleger in Köln mit Lill zusammengearbeitet und studiert inzwischen Biomedizinische Technologie mit dem Schwerpunkt Medizintechnik an der Hochschule Hamm-Lippstadt. Dort soll er auch eigene Medizinprodukte entwickeln, um den gesamten Prozess kennenzulernen: Strategischer Fokus, Literaturrecherche, Patentrecherche, Konzepte entwickeln, Prototypenbau, Fertigung.

Behle möchte sich also austauschen: Welche Medizinprodukte werden wirklich gebraucht? Es ist der Anruf, der die Entwicklung der Fasciotens-Produkte anstößt und schließlich 2016 darin mündet, dass Lill und sein chirurgischer Kollege, Dr. Beyer, ihr Unternehmen gründen – mit Behle als erstem Mitarbeiter.

Dr. Gereon Lill (links), Stefan Behle (rechts) Fotos: fasciotens

Wie Fasciotens offene Bauchdecken schließt

Behle, Beyer und Lill haben eine neuartige Apparatur entwickelt: So können Ärzt*innen an der Bauchdecke Fäden verankern und an einem Medizinprodukt befestigen und kontrolliert die Bauchdecke dehnen. Diese Konstruktion vermeidet, dass sich Muskeln und die elastischen Faszien der Bauchdecke zurückbilden. Diese Aufhängung wird gehalten von einer externen Vorrichtung, die auf dem Körper abgestützt werden. Auf diese Weise bleiben die Faszien der Bauchdecke unter Spannung. Das Prinzip ist nicht nur lebensrettend, sondern auch Namensgeber für das Unternehmen, denn: Die Faszien (lat.: fascia, engl.: fascia) stehen unter Spannung, (lat.: tensio, engl.: tension) – Fasciotens.

Das Produkt vermeidet nicht nur, dass sich die Bauchdecke zurückbildet. Vielmehr wird sie durch die Spannung gedehnt und es entsteht mehr Volumen in der Bauchhöhle. Somit kann die Bauchdecke je nach zugrundeliegender Krankheit nicht mehr nach vielen Wochen oder Monaten, sondern schon nach durchschnittlich sieben Tagen1 wieder verschlossen werden. Entscheidend an den fasciotens-Produkten ist, dass die Spannung auf die Bauchdecke quantifiziert und mittels Einstellungsmöglichkeit nach und nach aufrechterhalten werden kann. Das Produkt ist dabei so entworfen, dass Intensivpflegekräfte sie einfach bedienen können. 4.000 bis 6.000 Fälle können so auf diese Weise jedes Jahr allein in Deutschland behandelt werden.

Weitere Produktvarianten entstehen

Das Produkt fasciotens® Abdomen wurde 2019 mit CE-Kennzeichnung auf den Markt gebracht. Seitdem ist es möglich, ein standardisiertes Verfahren im Bereich offener Bauchdecken anzuwenden. Für ihre Produkte hat die fasciotens GmbH inzwischen in vielen Ländern Patente. Mit Kund*innen im europäischen Raum, aber auch in Australien, Neuseeland oder Südafrika, die das inzwischen 16 Personen starke Unternehmen in der Anwendung vor Ort oder digital beraten und betreuen.

Die beiden Produkte fasciotens-Abdomen und fasciotens-Pediatric. Bilder: fasciotens

Mit dem Produkt kommen Ideen für weitere Versionen. Eine davon ist speziell für Säuglinge, die mit einer offenen Bauchdecke geboren werden. Statt sich auf dem Körper abzustützen, ist der Haltearm an einer eigens für die Neugeborenen entwickelten Wiege extern befestigt. 300 bis 500 Kinder können so auf diese Weise jedes Jahr allein in Deutschland behandelt werden.

Mit einer weiteren Variante können komplexe Hernien bei Operationen behandelt werden. Hernien sind Bauchwanddefekte, durch die sich Eingeweide durch die Bauchdecke stülpen – wie etwa der Leistenbruch. "Das ist ein Thema, über das wenig gesprochen wird, obwohl es bis zu 100 Patienten pro eine Million Einwohner*innen weltweit betrifft", sagt Jürgen Trzewik. Er ist Professor für Medizintechnik an der Hochschule Hamm-Lippstadt und Mitbegründer des Studiengangs, den auch Stefan Behle absolviert hat.

Die Hochschule Hamm-Lippstadt und der Studiengang Medizintechnik

Jürgen Trzewik ist fast seit Gründung der Hochschule Hamm-Lippstadt im Jahr 2009 als Professor tätig. 2011 hat er den Studiengang Biomedizinische Technologie mit aufgebaut. Zuvor war er bei einem der größten Medizintechnikherstellern der Welt, Johnson & Johnson, in der Forschung und Entwicklung für Weichgewebsrekonstruktionen tätig.

Während Universitäten sich der Grundlagenforschung widmen, betreiben Hochschulen angewandte Forschung. Wie Trzewik sollen Professor*innen an Hochschulen deswegen mindestens fünf Jahre Erfahrung in Unternehmen nachweisen können. So wissen sie um die praktischen Belange von Firmen und können ihre Studierenden praxisorientiert auszubilden. "Wir haben den Studiengang so aufgestellt, dass unsere Absolvent*innen in der Lage sind, sowohl bei internationalen Großkonzernen zu starten als aber auch die regionale Wirtschaft zu unterstützen", sagt er.

Auch die Studierenden gehen im 5. Semester in eine Praxisphase. In deutschen oder international agierenden Unternehmen wenden sie ihr Wissen aus den vorherigen Semestern an konkreten Produkten an. "Unser Ziel ist, dass die Studierenden schnell in den Job gelangen", sagt Trzewik.

HSHL-Professor Jürgen Trzewik. Foto: HSHL/ Helen Sobiralski

Wie die Hochschule Hamm-Lippstadt Produkte wie Fasciotens unterstützt

Trzewik ist es auch, der gemeinsam mit seinem ehemaligen Studenten Stefan Behle die Entwicklung des fasciotens-Produkts für Säuglinge zwischen 2018 und 2020 in seinen Studiengang integriert. Gefördert vom Zentralen Innovationsprogramm (ZIM) des Bundeswirtschaftsministeriums, in Zusammenarbeit mit der Firma Everwand & Fell GmbH und unterstützt vom Direktor der Klinik für Kinderchirurgie und Kinderurologie am Universitätsklinikum Frankfurt, Professor Udo Rolle, haben wissenschaftliche Mitarbeitende und Studierende neue Messstände zur Exploration und Validierung des Verfahrens entwickelt. Dazu haben sie Chirurg*innen und weitere Ärzt*innen aus der Praxis befragt, in der Anwendung hospitiert und so die Zugkräfte, die die Fäden der Apparatur auf die Bauchdecke bringen, optimiert.

"Dramatisch fantastisch", nennt Trzewik das fasciotens-Produkt für Säuglinge: "Die Kinder haben oft monatelang auf der Intensivstation verbracht. Und der große Sprung durch das Produkt ist nun, das die Bauchdecke nach einigen Tagen verschlossen werden kann."

Welche Vorteile der Standort Ruhrgebiet für Medizinprodukte hat

Die Kooperation von fasciotens und der Hochschule Hamm-Lippstadt zeigt die enge Vernetzung der Forschung und Entwicklung im Ruhrgebiet. Der gebürtige Franke Trzewik sieht im Standort Ruhrgebiet für die Medizintechnik einen großen Vorteil. "Hier ist eine Verdichtung von Know-how und Wissen vorhanden – gerade im Gesundheitswesen. Das heißt, wenn ich hier Befragungen, Hospitationen oder klinische Studien durchführen möchte, kann ich in dieser Zeit verschiedenste Institutionen kontaktieren. An anderen Standorten muss ich mehrere Tagesreisen einplanen." Finanziell unterstützt von der RAG-Stiftung und dem Gründerfonds Ruhr, hat fasciotens seinen Hauptsitz von Köln nach Essen verlegt. Gerade für Start-ups gebe es interessante Programme und den Raum für Vernetzung. "Durch solche Vernetzungen profitiert und lebt man dann natürlich auch als junges Unternehmen", sagt Mitgründer Lill.

Titel-Bild: fasciotens 

Quelle zu 1: Fung et al. Vertical traction device prevents abdominal wall retraction and facilitates early primary fascial closure of septic and non-septic open abdomen. Langenbecks Arch Surg 407, 2075–2083 (2022). https://doi.org/10.1007/s00423-021-02424-1

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