Rückbau, Recycling, Neuerrichtung

Ende 2008 wurde die letzte Kohle aus der Zeche Westerholt gefördert, doch schon vorher steht fest: Schicht im Schacht heißt nicht Ende Gelände. Seit einigen Jahren entsteht unter Aufsicht einer Entwicklungsgesellschaft die Neue Zeche Westerholt. Ein Blick auf gestern, heute und morgen.

Mehr als 100 Jahre prägte der Bergbau das Leben der Menschen in den Städten Gelsenkirchen und Herten – mit der Zeche Westerholt im Zentrum. Nach einer bewegten Geschichte über zwei Weltkriege, die Kohlekrise und die Schließung 2008 gestaltet hier eine Entwicklungsgesellschaft einen weiteren Zukunftsort in der Metropole Ruhr. Über die künftige Nutzung haben auch die Anwohner*innen der beiden Städte mitentscheiden können.

Vor 1900: Beginn des Bergbaus

Vor Beginn des Bergbaus bestimmt Landwirtschaft die dünn besiedelte Region. Als der Steinkohlebergbau Ende des 19. Jahrhunderts einzieht, steigen auch die Bevölkerungszahlen der umliegenden Dörfer, darunter Herten und Westerholt, rasant an. Die Arbeitskräfte vor Ort reichen bald nicht mehr aus. Neue werden vor allem aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches gezielt angeworben

1902 bis 1920: Preußische Prachtzeche

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts liegt das Ruhrgebiet im größten Staat des Deutschen Reiches: dem Königreich Preußen. Um unabhängig von privaten Bergwerken zu werden, erwirbt der Bundesstaat mehrere Grubenfelder – und beginnt auf einem dieser Felder 1907 die Förderschachtanlage Westerholt 1/2 zu bauen. Bereits bis 1920 werden mehr als eine Million Tonnen Steinkohle pro Jahr gefördert. Prestigeträchtige Gründerzeitbauten prägen als architektonische Visitenkarte Preußens das Zechengelände, etwa die Torhäuser: Sie verbinden die Gartensiedlung, die in unmittelbarer Nähe für die Bergarbeiter errichtet wurde, mit dem Zechengelände.

1920 bis 1960: Ausbau und Erweiterungen

Der Zweite Weltkrieg unterbricht geplante Erweiterungen. Als einziger im gesamten Ruhrgebiet wird der Förderturm über Westerholt 2 komplett zerstört. Nach Kriegsende wird er durch einen geschlossenen ersetzt. Die Zentralkokerei Hassel und weitere Schächte gehen in Betrieb. Die Steinkohleförderung erlebt in den 1950er-Jahren ihre Blütezeit: Gelsenkirchen entwickelt sich mit 14 aktiven Zechen zu einer der größten Bergbaustädte Europas. Gemessen an der täglichen Kohleförderungsmenge lag das benachbarte Herten sogar an der Spitze.

Bestehende Bauten als Werkstofflieferanten für künftige nutzen, das ist modern gedacht.
Bernd Lohse, Geschäftsführer der Entwicklungsgesellschaft Neue Zeche Westerholt

1960 bis 1998: Fusionierungen und Betreiberwechsel

Im Jahr 1960 wird Westerholt mit der benachbarten Zeche Bergmannsglück über eine unterirdische Verbindung zusammengeschlossen und acht Jahre später von der Ruhrkohle AG übernommen. Dreißig Jahre später wird Westerholt in die Deutsche Steinkohle AG eingegliedert und mit dem Bergwerk Fürst Leopold/Wulfen zum Bergwerk Lippe zusammengeführt. Zu Spitzenzeiten Anfang der sechziger Jahre arbeiten mehr als 6000 Kumpel auf Westerholt. Mit einer Fördermenge von rund 3,6 Millionen Tonnen wird das Verbundbergwerk Ende der Neunziger zur größten Zeche im Ruhrgebiet.

2008: Schicht im Schacht

Am 19. Dezember 2008 wird zum letzten Mal das Schwarze Gold aus der Zeche Westerholt gefördert. Mit ihrer Stilllegung endet die Ära des Bergbaus in Gelsenkirchen und Herten: Westerholt war die letzte genutzte Zeche in beiden Kommunen. Gut 1700 Kumpel waren dort bis zur Schließung noch beschäftigt. Das Steinkohle-Aus bringt die Wirtschaft vor Ort ins Wanken.

2008 bis 2015: Die Weichen werden gestellt

Schon als klar war, dass Westerholt schließen würde, planten die Städte Gelsenkirchen und Herten gemeinsam mit der RAG Montan Immobilien und den Bürger*innen vor Ort, wie das 39 Hektar große Gelände künftig genutzt werden soll. Zusammengefasst wurden die Ideen in einem Masterplan, der seit Mitte 2015 die Transformation der Neuen Zeche Westerholt vorgibt.

2015: Neue Zeche Westerholt – auf dem Weg nach morgen

In vielfältigen Quartieren werden Grünflächen und Arbeitsplätze geschaffen. Auch Wohnraum entsteht auf Westerholt. Das ist die Vision des Masterplans. Die Bürger*innen können sich durch Workshops und Initiativen am Prozess beteiligen. Nur durch Mitspracherecht gelinge gute Projektentwicklung, erklärt Bernd Lohse, Geschäftsführer der Entwicklungsgesellschaft Neue Zeche Westerholt.

2019: Rückbau statt Abriss

Abreißen, entsorgen und neu bauen: Das ist nicht der Weg für die Neue Zeche Westerholt.

Im Sinne der Kreislaufwirtschaft liegt der Fokus darauf, die alten Gebäude zu erhalten und anderweitig zu nutzen. Nicht länger nutzbare Objekte werden geordnet zurückgebaut. Das gewonnene Material wird anschließend aufbereitet und wieder verwertet: "Bestehende Bauten als Werkstofflieferanten für künftige nutzen, das ist modern gedacht", sagt Lohse. Ein Herzstück der Umgestaltung ist bereits abgeschlossen: Im Sommer 2019 zogen die Projektgemeinschaft Westerholt 1/2 und das Stadtteilbüro Hassel in die frisch sanierten Torhäuser.

2020: Geschichte durchfahren, Zukunft ausprobieren

Seit Juni 2020 befindet sich Deutschlands erste Solarstraße auf dem Zechengelände, gebaut von einem Berliner Start-up. Die befahrbaren Solarpaneele versorgen nicht nur die Bürogebäude mit Strom, sondern auch Elektroautos und -fahrräder. Künftig sollen noch mehr neue Ideen und Energieformen ausprobiert werden: So besteht etwa durch die Wasserstoffleitung, die über das Zechenareal führt, eine direkte Verbindung mit dem Wasserstoff-Kompetenzzentrum h2herten in Herten. Das selbsterklärte Ziel der Entwicklungsgesellschaft ist es, CO2-Neutralität auf dem Gelände und darüber hinaus zu erreichen.

Einen besonderen Platz auf dem Areal bekommt die Allee des Wandels. Auf bisher 9,5 Kilometern Streckenlänge führt dieser vom Regionalverband Ruhr gebaute Radweg auf ehemaligen Bahntrassen an alten Bergwerken vorbei – auf Westerholt wird er fast mittig über das Gelände verlaufen. Nicht nur Einheimische können so den Wandel der Zeche wörtlich durchfahren. Mit dem bereits existierenden Glückauf Park Hassel auf dem Gelände der ehemaligen Kokerei wird die Allee das Labor des Wandels bilden.

Wie es weitergehen wird

Im ersten Halbjahr 2022 wird mit dem Kulturpavillon, der ins ehemalige Pförtnerhaus einzieht, der nächste Meilenstein eingeweiht. Lohses Vision: Künftig könnten von hier aus Führungen zu verschiedenen Themen über das Zechenareal starten. Zudem sollen im Kulturpavillon bürgernahe Veranstaltungen wie Lesungen oder Poetry Slams stattfinden.  Bis es so weit ist, sorgen Zwischennutzungen für eine lebendige Transformation. Im Mai 2022 ist etwa ein Urban Streetart Festival geplant.

Die Entwicklungsgesellschaft rechnet damit, dass die Transformation der alten zur Neuen Zeche Westerholt im Jahr 2031 weitgehend abgeschlossen sein wird. Gespräche mit möglichen Interessierten laufen aber bereits jetzt: Rund 1000 zukunftssichere Arbeitsplätze auf dem Areal haben sich die Verantwortlichen als Zielmarke gesetzt. In den Städten Gelsenkirchen und Herten bestehende Strukturen sollen mit neuen verknüpft werden. Neben wissensbasierten Dienstleistern werden auch Handwerksbetriebe, kleine und mittelständische Unternehmen sowie Gastronomie auf dem Gelände Platz finden – alles mit dem Fokus, das Angebot zukunftsorientiert und nachhaltig zu gestalten. Dabei gilt: Diversität für Stabilität – nicht noch einmal soll der Wegfall eines Sektors die Wirtschaft einer ganzen Region ins Wanken bringen.

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