Elektrolyse-Pilotprojekt in Herne

Kann Chemieproduktion nachhaltig sein? Sie kann! Auf dem Gelände der ehemaligen Zeche Hannibal erproben Evonik und Siemens Energy gemeinsam eine modifizierte Elektrolysetechnologie.

In Herne entsteht ein Puzzleteil, das in der Energiewende noch fehlt: grüner Wasserstoff. Evonik investiert am Standort Herne in einen Elektrolyseur zur Herstellung von grünem Wasserstoff. Mit Hilfe dieses Ausgangsstoffes will Evonik Isophorondiamin (IPDA) herstellen – einen wichtigen Rohstoff für Rotorblätter von Windkraftanlagen. In einem Begleitprojekt erforscht Siemens Energy, wie sich neue Wasserstofftechnologien unter realen Bedingungen in einem Chemiewerk bewähren.

Evonik will bis 2030 insgesamt 700 Millionen Euro in Produktionsprozesse und Infrastruktur investieren, um seinen CO2-Fußabdruck zu verringern. Die Wasserelektrolyse in Herne ist dabei ein wichtiger Baustein. So soll der Wandel von grau zu grün gelingen: Vom "grauen“ Wasserstoff, der aus Erdgas, Kohle oder Öl gewonnen wird, zum innovativen "grünen“ Wasserstoff. Ziel ist es, den Standort langfristig komplett unabhängig von fossilen Energieträgern und Rohstoffen zu machen. Herne könnte zum Vorbild für eine fossilfreie Chemieindustrie werden. Evonik nennt es den "Herne Green Deal“.

Ausgezeichnete Ausgangslage in Herne

Dass Herne zur Wiege des grünen Wasserstoffs werden könnte, hat viele Gründe: "Im Werk kommen relativ wenige unterschiedliche und vergleichsweise einfache Rohstoffe zum Einsatz", sagt Werksleiter Rainer Stahl. Lutz Komorowski, Leiter der Elektro-, Mess- und Regeltechnik, ergänzt: "Wasserstoff, Ammoniak, Methan (oder auch Erdgas), Aceton, Sauerstoff – wir brauchen hier am Standort fast nichts, was man nicht aus dem Chemie-Grundkurs kennt. Diese Rohstoffe könnten wir auch aus grünen Quellen beziehen oder selbst herstellen."


Das klingt einfach – ist aber ein Mammutprojekt; eine Jahrhundertaufgabe. Wie geht man so etwas an? Komorowski: "Es hilft ungemein, sich bestimmte Denkweisen zu verbieten. Zum Beispiel Das haben wir noch nie gemacht. Oder: Haben wir schon mal geprüft – vielleicht muss man jetzt nochmal unter anderen Aspekten prüfen, die vorher nicht interessant waren. Es ist wichtig, über den Tellerrand zu gucken. Und das Wichtigste, was man sich immer wieder bewusst machen muss: Man kann es nicht alleine. Das ist Teamarbeit". Stahl ergänzt: "Wir versuchen jetzt, einfach mal zu machen und loszulegen. Zum Glück haben wir mit Siemens Energy einen Partner gefunden, der auch ein echtes Interesse daran hat, Dinge einfach mal auszuprobieren."


Der Partner, mit dem Evonik im Rahmen des Projekts H2Hannibal zusammenarbeitet, sieht das genauso. "Im Industriesektor ist die Vermeidung von Treibhausgasemissionen besonders schwierig", sagt Manuel Mundt, Leiter Finanzen für Nachhaltige Energiesysteme bei Siemens Energy. "Wir brauchen Innovationen und starke Partnerschaften, um neue technologische Wege zur Transformation der Industrie zu beschreiten. Im Rahmen des Forschungsprojekts wollen wir herausfinden, mit welchen Modifikationen unsere Elektrolyseure am besten in ein solch komplexes integriertes Produktionssystem, wie es für die chemische Industrie typisch ist, integriert werden können."

Über H2annibal

Das Projektkonsortium aus Evonik und Siemens Energy ist Ende 2022 gestartet. Ihr gemeinsames Projekt H2annibal läuft bis Mitte 2025. Namensgebend für das Projekt ist der ehemalige Schacht 2 der Zeche Hannibal (Hannibal 2), der nur wenige Meter vom Evonik-Standort in Herne entfernt lag. Bisher nutzt der Chemiekonzern Wasserstoff aus fossilen Quellen. Das soll sich mit dem Elektrolyse-Pilotprojekt ändern. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) glaubt an H2annibal und fördert die Projekte mit rund 9,3 Millionen Euro.

Vom Förderturm zum geförderten Wissenstandort

In Herne ist ein Innovationsmotor der Energiewende entstanden, ein großes Versuchslabor. Das liegt auch am Standort: Herne war lange vom Strukturwandel hart getroffen. Die Zechen gingen, die Ersatzindustrie kam nicht, die Armut blieb. Heute profitiert die Stadt von ihrer langen Bergbau- und Chemiegeschichte, wird auf dem Weg zum grünen Standort von einem dichten Netzwerk aus Hochschulen und Stiftungen unterstützt, und auch die Bundespolitik fördert diese Entwicklung. Projekte wie H2annibal profitieren von der Bevölkerungsdichte des Ruhrgebiets: Um über den eigenen Tellerrand hinausschauen zu können, braucht es unterschiedliche Biografien und Perspektiven. Stahl: "Ich sage das jetzt ganz bewusst als alter, weißer Mann: Herne ist für mich das beste Beispiel dafür, dass ein Diversity-Ansatz mehr als Sinn macht. Man muss unterschiedliche Charaktere zusammenbringen – egal welchen Geschlechts, egal welchen Alters. Denn man braucht ein Team, das mit den Herausforderungen der Zukunft gut klarkommt. Deshalb haben wir die Kritischen und die Kreativen, die Jungen und die Alten, die mit viel Auslandserfahrung und die, die das Werk gut kennen".

Um die Ecke gedacht

Diese Dualität findet sich auch im Duo Stahl-Komorowski wieder. Komorowski ist seit neun Jahren am Standort Herne tätig. Stahl kam vor vier Jahren als Standortleiter, zuvor war er für Evonik in China. Was die beiden verbindet, ist ihr technischer Hintergrund und ihre unbändige Freude daran, eingefahrene Prozesse zu hinterfragen. So kamen sie beispielsweise auf die Idee, aus den eigenen Produktionsreststoffen Strom zu erzeugen. Auslöser war ein Treffen mit einem Turbinenexperten eines möglichen Projektpartners: "Uns wurde eine hochmoderne Gasturbine vorgestellt, die aber hochreine Rohstoffe benötigt. Da dachten wir erst: Das geht bei uns nicht“, sagt Komorowski. Stahl: „Aber dann haben Lutz und ich weitergesponnen: Wir sind dann mit den Kollegen technologisch viele Jahre zurückgegangen und auf ein älteres Design gestoßen. Das hat zwar einen viel geringeren elektrischen Wirkungsgrad als die modernen Modelle, aber: Es liefert Strom, Hochtemperaturwärme, Niedertemperaturwärme für das Fernwärmenetz und Abgase, die wir in einem weiteren Schritt biologisch verwerten können."

So weichen in Herne vielleicht alte Öfen Verbrennungs-Turbinen, die aus brennbaren Produktionsreststoffen Strom für den Standort erzeugen. Eine zukunftsweisende Lösung mit Hilfe einer älteren Technologie. Man muss halt genau hingucken, etabliertes Wissen kreativ hinterfragen und Betrachtungskreise anders ziehen als in der Vergangenheit.

+++ ZUR PERSON +++

Dr. Rainer Stahl ist promovierter Chemiker und leitet seit vier Jahren den Evonik-Standort Herne. Zuvor war er als Leiter Produktion und Technik am Evonik-Standort Shanghai tätig.

+++ ZUR PERSON +++

Lutz Komorowski ist Elektroingenieur und leitet den Bereich Elektro-, Mess- und Regeltechnik. Der gebürtige Gelsenkirchener kennt den Standort Herne bestens: Seit mehr als neun Jahren arbeitet er am Standort.

Fotos: Evonik

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